Kein Bundespräsident hat mit seinen Reden ein so positives Echo erzielt wie Richard von Weizäcker. Mehr als 45.000mal wurden seine wichtigsten Reden von Interessenten im In- und Ausland angefordert. So stark war die Nachfrage, dass die vier wichtigsten Reden zum 21. Deutschen Kirchentag und zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bereits zu seinen Lebzeiten erschienen sind. Von Weizäcker beweist mit diesen Redeerfolgen einmal mehr die Tatsache, dass trotz aller Medientotalität eine überzeugende Rede noch immer eines der besten Mittel ist, eine grössere Zahl von Menschen nachhaltig anzusprechen. Worin liegen die Ursachen dieser bemerkenswerten Redeerfolge?
Ein Selbstversuch: Schuhe nach Mass
Kennen Sie das? Man tut, was man immer tut, doch plötzlich ist es ganz anders. Vor einer Weile habe ich eine Bergtour gemacht und dabei etwas Ungewöhnliches bemerkt. Das Gehen war nicht nur mühsam, es tat auch noch weh. Kann nicht sein, dachte ich, warum tut das weh? Ist doch alles so wie immer. Nö, war es nicht. Ich sah verblüfft auf meine Bergschuhe. Die Bergschuhe sahen zurück – spöttisch: …Alter! Dann drückten sie noch mal schmerzhaft zu. Ja, das war es. Beide Schuhe drückten vorne an den kleinen Zehen. Sie waren zu eng. Ich weiss nicht, wie viele Paar Bergschuhe ich schon getragen und ausgelatscht habe. Zu Hause ging ich zum Schuhschrank. Als bergsportaffiner Konsument besitze ich leichte Modelle für die Alm und schwere für Fels und Eis. Ich habe Schuhe für mehrtägige Hüttentouren in verschiedenen Höhenlagen und Klimazonen, für unterschiedliche Hangneigungen, Grastexturen, Wurzelkrümmungen und Gesteinshärten. Ich nahm verschiedene Bergschuhe aus dem Schrank und probierte sie an. Dann holte ich ein Bier aus dem Kühlschrank, setzte mich damit an den Küchentisch und sah aus dem Fenster, wie Männern in Krisenzeiten das machen. Meine Schuhe konnten ja nicht von gestern auf heute zu eng geworden sein. Ich begriff, dass ich über viele Jahre hinweg zu enge Schuhe getragen hatte. Und warum? Weil Bergführer und andere Helden der Berge auch enge Schuhe tragen, mit denen man im schwierigen Gelände besser klettern kann. Aber ich bin sehr lange nicht mehr in schwierigem Gelände geklettert und habe nicht vor, es demnächst wieder zu tun.
Eine Ursache sei hier besonders herausgegriffen: die überdurchschnittlich gründliche Vorbereitung. Sie ist die erste und wichtigste Voraussetzung. Ohne sie gibt es keinen Erfolg. Sie ist das Fundament für neue Gedanken, für wesentliche Aussagen und für tiefer gehende Denkanstösse. Alles Prädikate, die man auch von Weizäckers Reden nachsagt. Von Weizäcker war mit Sicherheit kein Anhänger der lutherischen Rhetorikregel: Tritt frisch auf, mach’s Maul auf, hör bald auf! Solche Spontanität war nicht sein Metier. Eher die grundlich-gewissenhafte Vorbereitung. Wie also ging Richard von Weizäcker im einzelnen vor?
(a) Zeit für eine langfristige Vorbereitung
Für seine mittlerweile berühmt gewordene Rede zum 8.ten Mai begann von Weizäcker bereits im Januar mit dem Sammeln von Material. In den Osterferien arbeitete er dann sein erstes Konzept aus, das dann mit den Mitarbeitern besprochen und erst am 1.ten Mai in die endgültige Fassung gebracht wurde. Das bedeutet: Gut Ding braucht Weile!
(b) Konzentration auf die wichtigsten Gedanken
Von Weizäcker stellte sich bei seinen Redeentwürfen als erstes immer die Frage: was sind die wichtigsten Gedanken? Sie waren für ihn die Korsettstange seines Entwurfes. Erst wenn das inhaltliche Grundgerüst stand, folgte die Ausführung. Mit dieser Konzentration auf die wichtigsten Gedanken kombinierte von Weizäcker zwei Vorteile: er vermied Abschweifungen und verfügte gleichzeitig über eine logische Gliederung.
(c) Dialog mit den Zuhörern und Fachleuten
Ein Geheimnis seines Redeerfolges besteht zudem mit Sicherheit darin, dass er ein wichtiges Thema zuerst immer mit seinen Zuhörern diskutierte. Das heisst, mit all den gesellschaftlichen Gruppen und Kreisen, die diese Rede angeht und berüht. Ob Parteien- oder Verbandsvertreter, ob Frauenrat oder Juden, ob Jugendliche oder Senioren – von allen hörte er sich Meinungen und Ansichten an. So wurde der unmittelbare persönliche Dialog zur Voraussetzung für den offiziellen Dialog: denn was anderes ist eine Rede, als ein breitangelegter Dialog mit den Zuhörern? Ebenso ausführlich sprach er mit den Fachleuten über sein Thema. Als er eine TV-Ansprache anlässlich der Welthungerhilfe vorbereitete, flog er in den Sudan, um sich an Ort und Stelle über die Probleme und Problemlösungen der Entwicklungshilfe zu unterrichten. Nur so erwächst echte Überzeugungskraft.
Demnach probierte ich in Geschäften viele Bergschuhe an. Alle drückten an den den kleinen Zehen. Wählte ich sie eine Nummer grösser, drückten sie nicht mehr, dafür schwammen die Ferse hinten, und vorne hatte ich zwei Finger breit Platz. Füsse verändern sich im Laufe eines Heldenlebens, das kommt ja dazu: je älter, desto breiter. Darum stand ich eines Tages in einer kleinen Werkstatt auf einem Blatt Papier. Vor mir kniete der Schuster, der die Umrisse meiner Sohle mit einem Bleistift nachzeichnete. Meine Füsse seien wohl eher wie Flossen, sagte ich, und er kicherte nur und zog das Zeichengerät weiter.
(d) Sich in die Situation der Zuhörer versetzen
Das ist der Punkt, den der damalige Präsident mit am wichtigsten nahm. Bevor er die Rede ausarbeitet, wollte er genau wissen: wieviel Zuhörer sind es? Welche Zuhörer sind es? Was interessiert sie? Warum sind sie hier versammelt? Was ist die eigentliche Thematik? Und weil er des öfteren nicht der einzige Redner einer Veranstaltung war, fragte er weiter: wer spricht vor mir und worüber? Wer spricht nach mir und worüber? Erst wenn diese Fragen geklärt waren und er ganz genau wusste, was die Zuhörer wollten, was die anderen Redner sagten und an welcher Thematik sein Beitrag anknüpfen konnte, entwarf er auf diese spezielle Situation hin seine Rede.
(e) Wesentliche Aussagen
Von Weizäcker ging mit Zitaten oder Aphorismen sehr sparsam um. Sie dienen nicht als Ersatz für eigene Gedanken. Und so lautete auch sein primäres Ziel: immer einen neuen Gedanken dazu bringen: etwas, das über den ersten Einfall hinausgeht! Mit anderen Worten: von Weizäcker gab sich nicht einfach mit 08/15-Aussagen zufrieden. Er setzte seinen Ehrgeiz daran, neue Denkanstösse zu geben und über schwierigste (wie leichteste) Themen zutiefst Inhaltliches zu sagen.
(f) Pflege der Sprache
Wer von Weizäckers Reden liest, spürt, dass hier einer äusserst sorgfältig mit der Sprache umgeht. Fremd- und Modewörter tauchen sehr selten auf. Die Sätze werden klar und kurz gehalten. 25 Wörter waren schon das Maximum. Zum Ausgleich gibt es dann Sätze, die an Kürze, Prägnanz und Eindeutigkeit nichts zu wünschen übriglassen. Zum Beispiel, wenn er in Israel über den Terror urteilte: Gewalt stiftet keinen Frieden!
Ich werde schwermütig. Vielleicht, denke ich, ist es das erste Paar Bergschuhe, das ich mir nach Mass anfertigen lasse, zugleich das letzte Paar Bergschuhe, das ich noch verwenden werde. Dem Musterschuh, den der Schuster mir zeigte, sah man an, dass er in seinem Leben mehr Schläge und Schrammen einstecken konnte als sein Träger. Es ist ein altmodisches Modell, zwiegenäht und vollkommen aus Leder (dunkelbraun), auch innen (hellbraun). Heutige Bergschuhe sind meistens bunt, sie haben viele Nähte, wiegen wenig und verschleissen schnell. Apropos schnell: meine neuen, altmodischen Schuhe sind in 18 Monaten fertig. Und ich bin verdammt schnell. Ich will die Schuhe so schnell wie möglich wieder ausziehen.
(g) Übersichtliches Manuskript
Ziel jeden Redners ist es, so frei wie möglich zu sprechen. Natürlich beherrschte der Präsident die Fähigkeit, bei weniger wichtigen Reden frei nach Stichworten zu reden. Wichtige Reden aber arbeitete er nicht nur selbst, sondern zu 95 Prozent auch wortwörtlich aus! Für die Länge der Rede gibt es kein absolutes Mass. Sie ist immer auch vom Anlass abhängig. Als Grundregel jedoch gilt: so kurz wie möglich: denn auch die intelligenteste Rede darf nicht auf einen unbegrenzte Aufnahmefähigkeit der Zuhörer vertrauen.
Wenn Sie jetzt glücklich sind, bin ich auch zufrieden… Storytelling Aspekte für Rede und Schreibe.