Vor einigen Jahren sah es für mich so aus, als müssten wir die Handschrift abschreiben. Sie sei eine antiquierte Kulturtechnik, durch die virtuelle Revolution zum Aussterben verdammt – eigentlich schon so gut wie tot, hiess es, denn in unserem Alltag ist Handschriftliches selten geworden. Kommuniziert wird heute vor allem digital. Dennoch erlebt die Handschrift derzeit eine Renaissance, denn sie drückt etwas aus, das Maschinenschriften fehlt: Stil und Persönlichkeit. Wir schicken Instant Messages an Kollegen, schreiben eMails statt Briefe, und selbst Telefonnummern tippt man heute meist direkt ins Handy, statt sie wie früher ins Adressbuch zu notieren. Es gibt Tage, an denen das Einzige, was wir von Hand schreiben, die Unterschrift auf einem Kreditkartenbeleg ist.
Doch wer deshalb denkt, die Schreibkultur sei dem Untergang geweiht, der irrt. Im Gegenteil: die fortschreitende Digitalisierung hat auf gewisse Weise sogar zur Rückkehr des Handgeschriebenen beigetragen.
Wir alle schätzen unsere Smartphones, Computer und Tablet PCs. Wenn wir aber etwas so Persönliches wie ICH LIEBE DICH per SMS empfangen, dann ist das absurd. Und je mehr wir den ganzen Tag mit unpersönlicher Kommunikation zu tun haben, desto mehr wächst die Sehnsucht nach dem Persönlichen. In Zeiten von Massenverteilern ist das Handgeschriebene so zu einer Geste der Hinwendung geworden, die dem Adressaten suggeriert: Du bist mir wichtig, für Dich nehme ich mir Zeit. Auch weil der, der von Hand schreibt, wissen muss, was er sagen will, bevor er den Stift ansetzt. Es gibt keine Delete-Taste, Sätze lassen sich nicht einfach umstellen. Das ist ein ganz anderes Schreiben! Wer sich diesen Luxus leistet, möchte den Moment dann auch entsprechend zelebrieren.
Menschen mit einer neuen Idee gelten so lange als Spinner, bis sich die Sache durchgesetzt hat. (Mark Twain)
Handschriftliches macht Eindruck: das haben inzwischen auch viele Unternehmen erkannt. Immer mehr Firmen rufen ihre Mitarbeiter deshalb dazu auf, selbst zum Füller zu greifen. Sei es nur für die Unterschrift unter wichtige Kundenbriefe oder aber für ein paar persönliche Zeilen zu Weihnachten und Geburtstagen. Doch das mit dem repräsentativen, eleganten Schwung fällt manchem gar nicht so leicht: die Handschrift ist bei vielen verkümmert. Gleichwohl nimmt das Bedürfnis, die eigene Schrift zu pflegen, spürbar zu. Vor allem Manager und Banker sind es, die dieses Angebot nutzen und über Linienblättern Anstrich, Schwung und Lineinführung üben. Mit dem Schreiben ist es ein bisschen wie mit dem Autofahren. Wenn uns jemand fragt, wie wir den Rückwärtsgang einlegen, dann können wir das oft gar nicht beantworten, weil das ein unbewusster Vorgang ist. Es geht also deshalb zunächst darum, sich den Prozess des Schreibens bewusst zu machen.
Viele konzentrieren sich erst einmal auf ihre Unterschrift. Immer wieder gleitet der Füller über das Papier, Buchstabe für Buchstabewird gefeilt, bis der Gesamteindruck gefällt: schwungvoll, unverwechselbar, mit optimalen Proportionen – ein schriftlicher Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Und lesbar sollte das Ganze sein. Das schafft Vertrauen. Wer über seinen Bemühungen zu verzweifeln droht, für den gibt es tröstende Worte: selbst Goethe hat sich ab und zu zurückgezogen, um seine Handschrift zu optimieren.
Schreiben als Kunstform auf der anderen Seite, die modernen Kommunikationsmedien auf der anderen. In Zukunft wird diese Schere immer weiter auseinandergehen. Elektronische Medien werden viele Funktionen übernehmen, die heute noch handschriftlich erledigt werden, Notizen zum Beispiel. Gleichzeitig aber wird es für eine bestimmte Gruppe von Menschen wichtiger werden, ihre Handschrift zu benutzen, wenn es darum geht, ihre persönliche Note zu unterstreichen. Ein Massenphänomen wird sie also nicht mehr, die Handschrift. Und doch ist sie höchst lebendig – überall dort, wo sie etwas ausstrahlt! Als Beitrag gegen Uniformität und zeitlose Individualität. Wer schreibt, tut dies meist mit Sorgfalt – und selbstverständlich per Hand.
Um die Zeit anzuhalten: Küsse!
Um in der Zeit zu reisen: Lese!
Um der Zeit zu entfliehen: Reise!
Um die Zeit zu spüren: Schreibe!
Um deine Zeit auszukosten: Lebe!